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Identitätslos / Lockdown-Tagebuch #3

Ich bin identitätslos. Ein großes Mädchen in einer großen, großen Welt. Hört mich jemand? Sieht mich jemand? Warte, ich drehe den Lautstärkeregler etwas höher, verstärke den Kontrast ein wenig. Jetzt? Nein. Wie auch? Ich höre und sehe mich selbst momentan nicht.

Ich bin identitätslos, denn ich bin meine Relevanz los. Zumindest die fürs System. Relevant sind, laut Herrn Kretschmer, Konzerne wie Volkswagen, denn „die sorgen dafür, dass Geld reinkommt, damit wir anderen Hilfsgelder zahlen können.“¹ Ich danke unserer Volkswirtschaft für das Reichen ihres kleinen Fingers! An deren ausgestrecktem Arm ich (sowie zahlreiche meiner Kolleg*innen) dennoch langsam verhungere.

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Die Wahrnehmung meines Selbst beschränkt sich in diesen Tagen ausschließlich aufs Gehen. Stundenlanges Spazierengehen. Am besten allein, am besten mit Musik in den Ohren. Ich gehe und gehe, lege Kilometer um Kilometer zurück, um fortzukommen von der mich langsam aushöhlenden Leere meines Lockdown-Seins. Und doch nur immer wieder genau dort anzukommen.

Fortkommen. Ankommen. Dazwischen Identitätssuche. Bald ist Ostern. Vielleicht finde ich dann – mich? Gern auch einen nachvollziehbaren Corona-Verordnungs-Katalog, welcher weniger offensichtlich die eigene Unschlüssig- und Ratlosigkeit unserer Politiker spiegelt.

Im Gehen spüre ich meine Gedanken. Dann formen sich Worte aus dem täglichen, gleichförmigen Informationsbrei. Nur dann weiß ich, wer ich bin. Die mit der polierten Ritterrüstung, kampflustig, mutig und entschlossen. Meine Schritte sind fest und mit moderatem Tempo schreite ich meiner glänzenden Zukunft entgegen. Im Gehen bestätigt sich mir meine Identität. Ich könnte locker die Welt umrunden und gleich noch den Weltfrieden mitbesorgen.

Zu Hause dann ist schnell nicht mehr viel übrig von mir glanzvoller Wonderwoman. Mein Tempo schrumpft auf die mindestmögliche Geschwindigkeit, um mich nicht selbst zu überholen auf dem Weg zwischen morgendlichem Hafermilchkaffee und abendlichem Lavendeltee.

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Meine Identität löst sich auf in den Pixeln meiner Live-Streams.

Verkabelt und verbluetoothed, im weißen Licht zweier Softboxen stehend gebe ich mein Repertoire der gutgelaunten, lächelnden Trainerin. Und vermag doch nie mein gesamtes Potenzial abzurufen. Wir gesellen uns allein zueinander, jeder aus seinem eigenen Wohnzimmer, Flur, Schlafzimmer, Esszimmer, Arbeitszimmer – Gemeinschaftssinn suchend in Einzelhaltung.

Ich lebe für dieses Gefühl, da ganz vorn zu stehen! Hinter mir die Menschenmenge, deren Gesichter ich im Spiegel sehe, wie sie mich anstrahlen, wie sie auf jede meiner Bewegungen lauern, wie sie meinen Aufforderungen folgen.
Ich lebe für dieses Gefühl des gemeinsam erschaffenen Glücksmoments!
Ich lebe für den Applaus! Kein Geld der Welt nährt meine Seele wie es das freudetaumelnde, begeisterte Klatschen für meine gelungene Darbietung als Trainerin oder Tänzerin tut.

THERE’S NO BUSINESS LIKE SHOWBUSINESS
THERE’S NO PEOPLE LIKE SHOW PEOPLE, THEY SMILE WHEN THEY ARE LOW

Vorübergehend identitätslos, aber lächelnd

Deine frau zett


¹ Zitat aus dem Streitgespräch zwischen Michael Kretschmer und Katarina Witt : Erlaubt das Virus Fairness?, erschienen in DIE ZEIT Nr.9 vom 25.02.2021, S. 12

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Liebe Katja,
    …ja …wir sind momentan alle irgendwie gefangen in dieser Tretmühle der Ratlosigkeit der Politik. Man füttert uns mit angeblich gut durchdachten Lockerungsschritten, die aber eher dazu führen, unser Kopf-Wirrwar nur weiter zu verstärken. Anstatt uns nach vorne blicken zu lassen, fühlen wir uns nur immer weiter in unserer Lockdown Lethargie blockiert. Wir sind weit davon entfernt, optimistische Frühlingsgefühle zu entwickeln und zuversichtlich zu sein. Das Ganze macht nichts Gutes mit uns Menschen. Wir sind müde und verkriechen uns in uns selbst.
    Ich für meinen Teil fühle mich in dem momentanen Hamsterrad immer sehr befreit,wenn ich ein Live Training mit Dir und den anderen absolviert habe.
    Du verdienst viel mehr Lob, als wir wahrscheinlich alle gerade im Stande sind, zu geben und deshalb – mach so weiter, der Applaus wird wieder größer ausfallen und ich freue mich auf die Zeit, in der Du Dein Potenzial wieder voll ausschöpfen darfst. Fühl Dich gedrückt. Doreen

    Antworten
    • Katja Zielinski
      15. März 2021 12:29

      Liebe Doreen, ich wünsche Dir von Herzen Durchhaltevermögen und helle Gedanken in dieser grau empfundenen Zeit. Wir gehen gemeinsam da durch, online und offline. Alles Liebe, Katja

      Antworten

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