Die Sache mit dem Anspruch

Mittwochnachmittag. Mein Blick wolkenverhangen. Draußen der Regen, drinnen der Anspruch. Glotzt aus jeder Ecke. Hockt da, hartnäckig. Lässt sich nicht wegsaugen, nicht wegwischen, nicht wegspülen. Bleibt und glotzt. Unablässig.

Schonwaschgang für meine Gedanken. 30 Grad, kein Weichspüler. Meinem Anspruch kann ich nicht mit kuschligem Verstand gegenüber treten.

Ich trete also. Auf der Stelle. Mancherorts sieht man das dem Teppich an. Apropos Teppich –  mein Anspruch ist, den Teppich im Wohnzimmer loszuwerden. Eignet sich eh nicht, um was drunter zu kehren. Erst recht nicht ihn, meinen Anspruch. Der hockt  weiter in allen Ecken und glotzt. Ich glotze zurück. Schlimmer noch, ich fange an, mit ihm zu reden. Natürlich nicht übers Wetter. Das wäre anspruchslos. Nein…

Ich frage ihn nach seiner Meinung.
Über mich.
Meinen Haushalt.
Meine Mutterrolle.
Meine Beziehung.
Meinen Hintern.
Meine Texte.
Meine Arbeit.

Es ist furchtbar.

Zu selbstbezogen.
Zu schmutzig.
Zu dogmatisch.
Zu wenig.
Zu viel.
Zu gewöhnlich.
Zu schlecht.

Er ist furchtbar.
U
nd gnadenlos.

In den Augen meines Anspruchs bin ich allenfalls Mittelmaß.

In den Augen meines Anspruchs bin ich eine Verliererin.

In den Augen meines Anspruchs bin ich – NIEMAND.

Die Sache mit dem Anspruch

Anspruchsvoll zu sein ist in Ordnung. Wo kämen wir denn hin ohne einen Funken Verlangen, ohne ein Mindestmaß an Anforderung?
Zu wissen, was wir wie, warum, auf welche Art haben wollen hilft uns bei der Gestaltung unserer Lebensvorgänge. Ohne Anspruch kein Streben, keine Verbesserungen, keine Wünsche. Alles wäre ein Einheitsbrei, so grau und dröge wie der Himmel heute.

Mein persönlicher Anspruch an mich selbst und an mein Leben hat mich bisher ganz schön weit gebracht.

Problematisch ist nur, dass mein Anspruch und ich uns oft feindlich gegenüber stehen. Wir lieben und wir hassen uns.
Mein Anspruch an mich selbst ist sehr hoch. Ich erwarte von mir stets Leistung, Disziplin und Fleiß. Natürlich (oder Gott sei Dank?) nicht in allen Lebensbereichen. Ich bin fähig, ungeschminkt aus dem Haus zu gehen, den Wäschekorb überquellen und das Unkraut in meinem Garten wuchern zu lassen.
Geht es jedoch um mich als Mutter, Partnerin, Freundin, Trainerin, geht es um meinen Hintern, meine Texte, meine Arbeit – sehe ich regelmäßig rot. Da lasse ich mich von meinem Anspruch, von meinem PERFEKTIONISMUS überrollen. Dann finde ich mich scheiße. Dann öffne ich Selbstzweifeln Tür und Tor.

Mein extrem hoher Selbstanspruch bringt mich in ständige Selbstreflexion. Was einerseits gut ist, weil ich mich so immer besser kennenlernen und einschätzen UND weiterentwickeln kann.
Andererseits stehe ich mir mit meinem hohen Selbstanspruch selbst im Weg. Denn oft lasse ich Sachen liegen, weil sie mir trotz intensiver Arbeit daran nicht gut genug erscheinen. Im schlimmsten Fall bringe ich Dinge nicht zu Ende.

Es ist so eine Sache mit dem Anspruch. Wir brauchen ihn zum Leben wie die Luft zum Atmen. Wir dürfen gewisse Anforderungen an uns selbst stellen. Damit wir vorwärts kommen. Damit wir uns selbst mögen. Schlicht, damit es sich lohnt, morgens aufzustehen.

Darum sage ich meinem Anspruch jetzt: Du kannst mich mal!

In meinen Augen bin ich sehr gut.

In meinen Augen bin ich eine Gewinnerin.

In meinen Augen bin ich – JEMAND.


Bearbeitet am 22.09.2020

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Liebe Katja, wieder einmal vermagst du sehr bildhaft und auch poetisch und dramatisch deine Gedanken zu äußern und zu teilen. Mich als deine Leserin in deine Gedankenwelt eintauchen zu lassen, empfinde ich als exklusiv. Du lässt deine Seele durch deine „Feder“ sprechen, ähnlich wie ein Poet oder ein Songwriter. Es liest sich jedenfalls sehr gut und jeder wird dein Empfinden und Denken nachempfinden können und bestätigen, so auch ich. Dankeschön!
    Ich kenne sie(die Ansprüche) genau wie du und auch diesen Perfektionismus. Mittlerweile kann ich hin und wieder gut OHNE Sein. Ich versuche mir zu erlauben, die zu sein die ich bin.

    Antworten
    • Katja Zielinski
      4. Juni 2019 11:41

      Wundervoll, liebe Bella. Meine Gedankenwelt hier zu teilen verstehe ich als Geben und Nehmen zwischen mir und meinen LeserInnen. Es erfüllt mich mit Freude, wenn ich lese oder höre, dass meine Worte ankommen, berühren, bewegen. Darum: Danke an Dich fürs Lesen und Kommentieren! Und dass Du bist, die DU bist! Deine Katja

      Antworten

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